Sich liebevoll beistehen in guten wie in schlechten Zeiten

Sowohl in den Einzelstunden als auch in meinen Nachsorgegruppen berichten Patienten regelmäßig, dass sie wieder mehr unter ihren Symptomen leiden. Dass die Stimmung wieder schlechter ist, sie schlecht schlafen, dass sie leicht erschöpft sind („Dabei habe ich doch kaum was getan“), sie leiden unter Konzentrationsstörungen, negativem Denken, manche berichten von einer Zunahme ihrer Ängste. Fast im gleichen Atemzug sagen sie dann: „Das ärgert mich so! Das ging doch früher! Ich habe das doch IMMER hinbekommen“.

Den meisten Menschen fällt es leicht, liebevoll mit sich zu sein, wenn sie selbst so funktionieren, wie sie es sich vorstellen und ihnen das gelingt, was sie von sich selbst erwarten. Doch es gibt eben auch diese anderen Zeiten, in denen der eigene Körper und der eigene Geist nicht so mitmachen wollen. Und gerade während oder nach einer psychischen Erkrankung  braucht es Zeit und Geduld, bis das alte Leistungsvermögen wieder aufgebaut ist. In vielen Fällen ist es zudem weder ratsam noch möglich, wieder ganz „der/die Alte“ zu werden. Denn häufig ging der psychischen Erkrankung eine Verausgabungsbereitschaft voraus. Gerade Personen mit einer besonders hohen Leistungsbereitschaft neigen dazu, die eigenen körperlichen und geistigen Belastungsgrenzen wiederholt zu überschreiten. Oft glauben sie, nur etwas wert zu sein wenn sie leistungsfähig sind. Doch irgendwann macht der Körper das nicht mehr mit und jedes Symptom kann dann schnell als Schwäche gedeutet werden, als Beweis des eigenen Versagens. Darauf folgt oft die Wut auf sich einhergehend mit selbstabwertenden Gedanken („Ich bin ein Versager und eine Belastung“). Durch diese Gedanken und Gefühle gerät die Person unter Stress, weitere Symptome werden ausgelöst. Ein Teufelskreis entsteht.

Was kann man also tun statt sich zu ärgern und abzuwerten? Anhalten. Innehalten und eine bedingungslos liebevolle Zuwendung zu sich selbst. Wie genau kann das gelingen? Ich möchte hier die Metapher der ‚Guten Eltern‘ nutzen. So wie gute Eltern die Sorgen und Nöte ihrer Kinder erspüren, sie in ihrem Fühlen und Denken wahrhaft annehmen, hinhören, und ihnen eine liebevolle Begleitung anbieten, so können wir das für uns selbst tun. Das bedeutet ganz konkret. einen Dialog mit sich selbst führen. Hilfreich sind zwei sich gegenüber stehende Stühle. Der eine steht für die guten Eltern. Hier setzt man sich zuerst drauf und beginnt mit dem liebevollen Dialog. Zwischendurch setzt man sich auf den zweiten Stuhl, der für unsere verletzliche Seite, unsere Gefühle und Bedürfnisse steht, für das sog. innere Kind. Das innere Kind braucht Zeit und Raum, es darf alles sagen, was es möchte. Der Dialog kann anhand der folgenden drei Schritte geführt werden: 

Im ersten Schritt werden jegliche Symptome, die auftauchen, angenommen. Egal, wie unangenehm. Sie sind die Sprache des Körpers, sie wollen auf etwas hinweisen. Vielleicht, dass wieder eine Grenze überschritten wurde, dass die Tage vorher sehr stressig waren, vielleicht wollen sie daran erinnern, mal wieder durchzuatmen. So wie gute Eltern sich zu dem Kind hinsetzen und fragen: „Was ist los? Was ist passiert? Wie geht es dir? Erzähl es mir genau, ich möchte alles wissen!“.

Im zweiten Schritt werden Gefühle wie Ärger auf sich selbst und verletzende Gedanken wie „Ich bin ein Versager“ kurz wahrgenommen und dann verabschiedet. So wie gute Eltern vielleicht folgendes sagen würden: „Ich kann verstehen, dass du dich über dich ärgerst, wenn es nicht so klappt, wie du gerne hättest. Aber der Ärger wird dir nicht helfen. Sondern im Gegenteil. Du denkest dann sogar schlecht über dich, denkst, du hast versagt. Aber das hast du nicht! Du kannst gar nicht versagen denn so wie du bist, bist du wunderbar. Also lass den Ärger los, du brauchst ihn nicht. Lass uns lieber schauen, was dir besser helfen kann“.

Im dritten Schritt wird sich Zeit genommen für das, was gerade gebraucht wird. Was würde jetzt gut tun? Das können kleine Dinge sein: Eine Tasse Tee, ein Spaziergang, das Lieblingslied. Wenn das in der Situation selbst nicht möglich ist, dann kann ein konkreter Termin überlegt werden, um dies nachzuholen. So wie gute Eltern ihrem Kind, das jetzt sofort auf den Spielplatz möchte, zum Beispiel folgendes sagen: „Mein kleiner Schatz, du möchtest gerne spielen, das kann ich gut verstehen, doch jetzt klappt es leider wirklich nicht, wir haben leider keine Zeit. Aber deinen Wunsch nehme ich trotzdem ernst und biete dir an, morgen Nachmittag auf den Spielplatz zu gehen. Ist das ok?“. 

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Ausprobieren, Ihre Claudia Jessen


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